Dieter
Marcello
Jahrgang 1942. 1962 - 65 Schauspielstudium an der Max-Reinhardt-Schule in
Berlin. Dann Mitarbeit im Straßentheater, in der Kinderladenbewegung
und schließlich Arbeit als Brennschweißer bei der Kraftwerks-Union
in Berlin.
1972 - 81 Maschinenschlosser-Lehre, Motorenprüfer und Betriebsrat bei
Daimler-Benz in Stuttgart; Mitglied der oppositionellen Gewerkschaftsgruppe
Plakat.
Von 1981 bis 1988 Soziologiestudium an der Universität
Frankfurt, Forschungsaufenthalt in Detroit und Abschluß mit einem
Thema über Habermas und lndustriesoziologie.
Sein erster Film AMERICAN
BEAUTY LTD. wurde im Februar 1989 auf den 39. Internationalen Berliner Filmfestspielen
im Internationalen Forum des Jungen Films und in der Neuen Deutschen Reihe
uraufgeführt.
AMERICAN BEAUTY LTD. wurde mit dem Prädikat Besonders Wertvoll
ausgezeichnet und für den Bundesfilmpreis 1990 nominiert.
Auch sein zweiter Kinofilm über den Architekten Albert
Kahn (1869-1942) wurde hauptsächlich in Detroit gedreht.
Ein drittes Filmprojekt, DETROIT THRILLOGY ist leider
über das Projektstadium nicht hinausgekommen.
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WAS WAHR WAR
Zum Verhältnis von
Fiction und Dokumentarischen in meinem Film.
Mit AMERICAN BEAUTY LTD. bin ich sehr nah an der Realität geblieben
- wohl weil ich Erfinden für wenig lebendig halte. Natürlich
frage ich mich dabei, ob damit außer mir auch Anderen gedient ist,
die nur das vom Film haben, was er zeigt, und zu den Bezügen keine
Beziehung.
Giuseppes Schwulst z. B. habe ich aus dem Poesiealbum meiner Großmutter;
ihre New Yorker Wohnung, einschließlich der Feuerleiter vor dem
Fenster ist der originalen in der 22. Straße East nachgebaut; an den
Wänden hängen die Bilder ihrer Eltern aus Straßburg, und
auf dem Sekretär liegt die Approbationsbescheinigung meines Großvaters.
Aber: Nicht nur ihre Requisiten - ihre im Film gezeigte Lebensgeschichte
ist so wahr, daß sie thematisch für den ganzen Film den Bogen
aufspannt, so wie sie für Enricos Leben oder auch meines Bedeutung
gewonnen hat. Ich war ergriffen und mußte schlucken, als ich in
Washington am Schneidetisch in der Library of Congress auf dem Archivfilm
von 1896 zum erstenmal den aufgeregten jungen Mann mit dem
sperrigen Koffer sah, und dahinter die Frau in der weißen Bluse
- eine Scene die nur durch Trickbearbeitung deutlich wurde. Und weiter: Bestimmt hatte
der wirkliche Joel Silberstein, Joels Großvater, bei seiner Ankunft
in Ellis Island kein Viola-Model im Rucksack, wie meiner; aber beide waren
Geigenbauer und hatten deshalb ihre Chance im Werkzeugbau der DetroiterAutofirmen;
Nancy Jones, die Kuratorin im Museum, ist Joels Cousine; ihre Großmutter
kam allein in Amerika an - ihr Mann war bei einem der Pogrome erschlagen
worden; und Nancys Onkel wiederum war eines der Opfer des Hungermarsch
von 1932 zum Rouge.
Daß die Straße allerdings, in der wir Roslyn und Joel gedreht
haben (die Frackhemden-Bügelscene), nach dem deutschen Gewerk-schaftsführer
Tarnow genannt ist, (wohl nach einer der folgenreichen Rationalisierungs-Erkundungsreisen
der 20er Jahre), schon wieder albern.
Rosy und Joseph, das letzte historische Paar, verbindet wohl am meisten
mit der Realität: Das Dokumentarmaterial in den Reuther Archives
in Detroit zum Flint-Streik 1936 haben mir Henry und Dorothy Kraus gedeutet:
Dorothy war in der legendären emergency brigade, Henry, als der Herausgeber
des Flint Auto Workers, war in der Streikleitung. Sie selbst sahen das
Material - und darin sogar sich selbst - zum erstenmal. In einer leerstehenden
Fabrikhalle bei Köln haben wir dann die Fabrikwand und die Scheiben
nachgebaut, die eingeschlagen werden, sogar einen 38er Chevy-Sitz aus
einem Auto-Museum gefunden und zu den Glassplittern und den Stullen eine
A 3-Kopie der Ausgabe des Daily Workers gelegt, die auf der Titelseite
von den Ereignissen berichtet, die wir drehten.
Die Scene von den Ford-Streikvorbereitungen soll als letzte angeführt
werden: Dem alten Mann am Tresen-Fließband, der einmal fuffzehn
ruft, verdanke ich fast alles, was ich an kritischer Liebe zu Amerika
gewonnen habe - Saul Wellman, 45 Jahre in Detroit, Vorsitzender der Drucker-Gewerkschaft
und der kommunistischen Partei, mit allen einschlägigen Erfahrungen
der McCarthy-Ära, Veteran der Lincoln-Brigade im Spanischen Bürgerkrieg
und im Zweiten Weltkrieg als Fallschirmspringer in Deutschland schwer verwundet. Er meinte,
sie seien alle viel jünger gewesen, 1941, als es gegen Ford ging.
Dann Martin Glaberman hinter dem Tresen, der mit seinem Buch Wartime
Strikes den damaligen zweischneidigen Gewerkschaftspatriotismus
infrage gestellt hat. Oder Peter Unterweger aus der Forschungsabteilung
der Automobilgewerkschaft. Oder Patty Lee, die sowohl in den USA und in Berlin
im SDS war, während sie im Theater am Schiffbauerdamm für ihre
Doktorarbeit über Brechts Amerika-Bild recherchierte.
Und alle, die vom Workers Concept Theater aus Ypsilanty, wo später
im Film die Liberator-Bomber vom Band laufen, als Statisten mitgemacht
haben, neben den Freunden von den Labor Notes, die wohl den größten
Teil der einschlägigen Flugblätter seit den 60ern druckten.
Sie alle haben dem Film etwas von ihrem eigenen Leben mitgegeben, und
das hieß etwas von ihrem Herz und ihrem Verstand. Ich glaube, sie
haben es für diese Stadt gegeben, von der sie wollen, daß man
darin leben kann, trotz Auto.
Uber Kenny Cockrel, der mit uns anderthalb Wochen gedreht hat, wurde geschrieben,
er hätte vielleicht Chancen gehabt, Bürgermeister von Detroit
zu werden. Kenneth V. Cockrel starb im April 1989 an einem Herzinfarkt.
Sein Sohn, der im Fisher building kurz durch das Bild läuft wurde
tatsächlich, in seiner Funktion als Vorsitzender des Stadtrats in Detroits
wohl schlimmsten Jahren kommissarischer Bürgermeister, während
Bürgermeister Kwame Kilpatrick in dieser Zeit wegen Betrug, Geldwäsche und
vielen anderen Delikten, die Detroit schließlich in den Bankrott trieben,
vor Gericht stand.
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