ALBERT KAHN —
ARCHITEKT DER MODERNE (1993)

Dokumentarfilm, 35mm/Video,
ca. 80 Min. Farbe/s-w, dt./engl.
Regie: DIETER MARCELLO
Kamera: CHRISTIAN LEHMANN

Ingeborg Havran:
Die Musik von Charles Ives - Paradigma eines Weges in der Neuen Musik und eines neuen Kunstbegriffs um die Jahrhundertwende.

"Die Symphonie Nr. 4 ist ein außerordentliches Durcheinander aber in ihr gibt es etwas, das voll vibrierenden Lebens ist ... in ihr stecken wirkliche Realität, wirkliche Naivität und eine prachtvolle Selbstachtung ... Das Stück enthält den gewissen undefinierbaren 'Pfiff' und kümmert sich nicht um die philosophischen oder moralischen Ziele des Komponisten." Diese Sätze schrieb ein Kritiker der "New York Times" nach der Welturaufführung der 4. Symphonie im Januar 1927. Wie keinem anderen amerikanischen Komponisten der Jahrhundertwende gelang es Charles Ives, die Widersprüchlichkeiten und überraschenden Aspekte des amerikanischen Lebens einzufangen: Unerwartete Stockungen, chaotische oder friedliche Augenblicke und gleichzeitige Konflikte, Geräusche des Alltagslebens, plaudernde Leute, spielende Kinder dröhnende Hupen, rasende Flugzeuge, bellende Hunde, marschierende Kapellen irritierten nicht nur das zeitgenössische Musikestablishment. Charles Ives fand mit seiner empirischen Musik zu einer musikalischen Sprache, die sich radikal von traditionellen Mustern löste und den Komponisten zur Zentralfigur der amerikanischen Kultur - Strawinsky und Schönberg sind es für Europa - der Moderne werden läßt.

Steht die 1. Symphonie von 1895 noch ganz in der Tradition des europäischen romantischen Klassizismus - Ives hat sich  während seines Kompositionsstudiums bei Horacio Parker intensiv mit der europäischen Musik beschäftigt und das Werk in den Lehrjahren komponiert - so erfolgt danach eine Öffnung zur Realität hin, die seine Musik zu einer komplexen Einheit von Disparatem verschmilzt.
Ives sah in seiner Doppelexistenz als erfolgreicher Versicherungsagent und Künstler keinen Widerspruch, sondern eine notwendige Verbindung: "Im Geschäft habe ich eine große Vielfältigkeit und Fülle und den ganzen Reichtum des Lebens kennengelernt. Eine Kunst, die im Verborgenen bleibt, kann nicht Vitalität, Wirklichkeitsnähe, und Wahrhaftigkeit besitzen. Die 'substanzielle' Kunst kann nicht zugleich 'exklusiv' sein, denn sie entwickelt sich unmittelbar aus der Lebenserfahrung und der Lebensanschauung heraus. Meine Arbeit in der Musik half mir im geschäftlichen Leben, und die Arbeit im Geschäft kam meiner Musik zugute." (Musical Quarterly, XIX, 1 (Januar 1933), 47). Diesen ideellen Vorwurf, "wahr" zu sein, setzt Ives in eine Ästhetik um, die sich dem streng formalen Musikbegriff der europäischen Musik widersetzt: kein Phänomen ist überflüssig und kann ausgeschlossen werden. Die Auffassung von der Gleichrangigkeit und Austauschbarkeit sinnlicher Erscheinungen, assoziatives Spiel mit heterogenen Bildern als Symbolen, die kraft der Imagination zu einer Einheit geformt werden, Ives Synkretismus, sein Witz und seine Zitierfreudigkeit sind Spiegelbild der Fülle und unprätentiösen Art amerikanischen Denkens und Lebens.

Die Überlagerung traditioneller und experimenteller Ansätze und Anschauungen bei Ives bringen die Vorstellungen dessen, was musikalisches Material und seine strukturelle Anordnung ist, zur Auflösung. Sein "Metastil" ist geprägt von Zitat, Collage und Transformation/Bearbeitung heterogener Musiken wie Volksmusik, Kirchenmusik, Blasmusik, Musik der Militärkapellen, Musik aus der akademischen Sphäre, Jazz und der Kunstmusik, die in neue Kontexte gestellt werden. Ives' Stil ist weiter bestimmt durch die Anwendung der Harmonik in funktionalem, also tonalem, und nichtfunktionalem Zusammenhang, polytonal oder atonal, von homophonen Satzstrukturen bis zu komplexem und reichem Kontrapunkt, von rhythmischer und metrischer Polyphonie, von herkömmlichen Tonskalen bis zu Vierteltonkompositionen und der Verwendung mikrotonischer Intervalle. Verwendet Ives auch noch die Gattungsbegriffe der europäischen Kunstmusik wie "Symphonie", "Lied", "Sonate" usw., so ist ihre formale Festlegung längst aufgegeben durch die Neudefinition des musikalischen Raumes und der Zeit in den Kompositionen. Die Individuation des Stils, die Ives hier schafft, ist Inbegriff der Moderne, der Musik des 20. Jahrhunderts, geworden.

Aus Charles Ives' Werk wurden für den Film fünf Ausschnitte gewählt, die in kurzen Auszügen, teilweise unter Verwendung von Texten der Musikverlage, in ihrer Zuordnung dargestellt werden sollen:

ERSTE SYMPHONIE,
Satz 1 + 2
Detroit Symphony Orchestra
NEEME JÄRVI
 
Der Vorspann des Films zeigt ‘Architektur pur’. Ihm sind Auszüge aus dem 2. Satz der Ersten Symphonie von 1895 unterlegt. Dieses erste symphonische Werk des Amerikaners Ives steht ganz in der Tradition der europäischen Spätromantik und dokumentiert Ives’ Ausgangspunkt des Komponierens. Auch Albert Kahns Lehr- und Wanderjahre 1890/91, mit der die chronologische Darstellung des Films einsetzt, sind geprägt von der Erfahrung und Aneignung europäischer Architektur. Ausschnitte aus dem 1. Satz dieser 1. Symphonie verklammern diesen Teil mit dem Vorspann, in dem die ganze Vielfalt und Entwicklung in Kahns Werk aufscheint.

Unanswered Question
The Gulbenkian Orchstra
MICHAEL SWIERCZEWSKI

Unanswered Question (1906), ein Stück mit dem Untertitel A Contemplation of a Serious Matter, schlägt den Bogen vom versteckten jüdischen Friedhof in Kahns Geburtsstadt Rhaunen zu den Luftaufnahmen und den grandiosen Details seines weithin berühmten Fisher-Building von 1927, das Kahn als Kern eines neuen Stadtzentrums für die Millionenstadt Detroit konzipierte.

CENTRAL PARK IN THE DARK
The Gulbenkian Orchstra
MICHAEL SWIERCZEWSKI
 
Unanswered Question kontrastiert im Charakter mit Central Park in the Dark mit dem Untertitel A Contemplation of Nothing Serious, das, um Ives zu zitieren, ‘ein Klangbild natürlicher Klänge und Geschehen erweckt, die die Menschen vor etwa dreißig Jahren hörten (bevor der Verbrennungsmotor und das Radio die Erde und Luft beherrschten), wenn sie auf einer Bank im Central-Park saßen ...’  Diese ironische Klangcollage begleitet im Film die Debatte zu Kahns Einfluß auf das Neue Bauen und seine Kritik an den Bauhaus-Theoretikern und ihrer dogmatischen Überdehnung der Ästhetik der Industriearchitektur. Zusammen mit den Archivfilmaufnahmen von der Arbeit in der 1922 fertiggestellten Ford-Glas-Fabrik bilden sie im Film die Begleitmusik für ein groteskes Arbeiterballett und für den chaplinesken Auftritt eines Besuchers aus Europa mit Henry Ford I in dessen Kraftwerk, das wir von Modern Times her schon zu kennen glauben.
 
VIERTE SYMPHONIE
Satz 2 + 3
London Philharmonic Orchestra
JOSÉ SEREBRIER
Charles Ives' kompositorisches Verfahren, immer wieder Teile aus seinen Stücken herauszuschneiden und sie zu neuen zusammenzusetzen, gab die Legitimation, parallel zur Periode von Kahns Wirken in der Sowjetunion Ausschnitte aus dem 2. und 3. Satz der Vierten Symphonie (1910-1916) zu montieren: Vierteltonmusik und polyrhythmische Passagen, die nur mit zwei gleichzeitigen Dirigenten zu meistern sind, durchdringen sich mit den getragenen Choralsätzen aus dem 3. Satz, der "Fugue" - die wiederum eine Transkription des ersten Satzes seines Streichquartetts von 1896 ist.
Im letzten Satz Very slowly - Largo maestoso nimmt Ives nochmals alle Elemente auf und führt sie zu einer Apotheose seiner neuen musikalischen Sprache.

THREE PLACES IN NEW ENGLAND: Putnam's Camp
The Gulbenkian Orchstra
MICHAEL SWIERCZEWSKI
 
Der Titel Putnam's Camp dieses 2. Satzes seiner 1914 vollendeten Neu-England-Symphonie, bezieht sich auf  ein Denkmal in Redding, Connecticut, aus dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, das auf der Stelle eines alten Militärlagers in der Nähe der kleinen Stadt steht, in der der Komponist geboren wurde.. Viele seiner Kindheitserinnerungen (sein Vater war der Kapellmeister der Stadt)  sind in dieser übersprudelnden Collage militärischer Märsche enthalten, die die freudige Atmosphäre eines Picknicks zum Gedenken des Vierten Julis, mit den Augen eines kleinen Jungen gesehen, wachrufen. Wenn es jedoch an der Zeit ist, ein kleines Nickerchen zu machen, geht der Junge fort, fällt in einen Schlaf und träumt von einer geisterhaften Prozession toter Soldaten. Am Schluß des Stücks wacht er auf und gesellt sich wieder zu dem vergnügten Getümmel.
Im Film orchestriert die Musik aus Putnam’s Camp den fröhlichen Boosterismus der Zeit nach den Jahren der Großen Depression und das mit der Rüstung gegen den Faschismus neu angefeuerte Pathos des Glaubens an machbare Zukunft.

Albrecht Imbescheid
Vier Kompositionen
für " Albert Kahn Architekt der Moderne"


Highland Park - Die Moderne
Palladio in Detroit - Bauten bis zum Ersten Weltkrieg
Privatvillen und Stahlbeton
Zwischen Großer Depression und Zweitem Weltkrieg
 
ENSEMBLE 20
Dirigent: BRAXTON BLAKE
 
Ausgangsmaterial der Komposition ist eine Messe des Renaissancekomponisten Antoine Brumel von 1503, die "Missa ecce terrae motos" (Erdbebenmesse).  Konsequent repetitiv-polyphone Abschnitte, die aus der Imitation der fünf Stimmen des Chores entstehen, wurden aus zwei Messesätzen herausgeschnitten und neu montiert. Die moderne Instrumentation mit E-Gitarre, Sopransaxophon, Bassetthorn, Bassklarinette, Violine, Viola, Cello, Klavier, Harfe, Flöte und Schlagzeug, läßt die herkömmliche Satzstruktur durch die Klanglichkeit des 20. Jahrhunderts verändert und neu erscheinen. Bewußt wurde für das erste Stück die tiefe Lage der Instrumente eingesetzt und  damit das Original Brumels belassen, das ja ausschließlich von Männerstimmen ausgeführt wurde.
Erscheinen diese und weitere retrospektive Elemente, wie ein Zitat aus einem Madrigal Gesualdos (ca. 1561-1613) und einer Galliarde von Paul Peuerl (17. Jhdt.) noch in der zweiten Komposition, so fällt das aus heutiger Sicht fast minimalistisch anmutende, verspielte Moment im dritten Stück heraus und kippt in eine neue Ästhetik.
Die Entfaltung eigener Strukturen und Klanglichkeit im letzten Stück führt ganz weg von der Tradition der Renaissancemusik in die Musik unseres ausgehenden Jahrhunderts.